Tiere

Die Darstellung von Tieren in meinen Kunstwerken rühren an einem kulturellen Gedächtnis der Menschheit, das in seinem Grunde schizophren ist. Auf der einen Seite steht das Tier als eine niedere Spezies: gezüchtet, genutzt, verbraucht, verzehrt, trainiert und getötet, auf der anderen Seite steht eine Ikone: Freund, Beschützer, Retter, Trostspender, Sinnbild, Traumbild, Alter Ego. 

Was mich an diesen scheinbar unversöhnlichen Extremen als Künstlerin und Philosophin fasziniert, ist, was der Mensch im Umgang mit Tieren von sich selbst preisgibt, insbesondere davon, wie er sich zu sich selbst und seinen Mitmenschen verhält. Das Tier als Opfer von Macht, Disziplinierung, Optimierung und einer aus psychologischer Sicht unberechenbaren Angstliebe ist für mich künstlerisch eine unerschöpfliche Quelle, da ich in all den (je nach Gattung unterschiedlichen) Gestalten, Bewegungstypen und anthropologisch aufgeladenen Bedeutungen Bildmodelle finde, die den menschlichen Leiden, allen voran den Leiden an uns selbst, eine visuelle, das heißt, sinnliche Sprache verleihen. Das Bild geht tiefer als das Wort. Darin findet das ganze Universum von Herrschaft, Ungleichheit, Fremdheit, körperlicher und seelischer Domestizierung, ja Ausbeutung seinen Platz. 

Zur gleichen Zeit - wie gesagt, die Angelegenheit ist schizophren - repräsentieren Darstellungen des Tieres und die oft mythologisch durchdrungenen Ideen über dessen Wesen Schönheit, Kraft und Spiritualität. Tierwesen sind uns zu seelischen Begleitern, zu Wegweisern und Schutzsymbolen geworden. Wir suchen ihre Nähe und Zuneigung.

Diese kulturell verwurzelte Ambivalenz des Menschen, die sich in seinen Beziehungen zum Tier niederschlägt, nutze ich in meinen Werken als Spiegelelemente für das Selbst- und Fremdverhältnis von Menschen und auch meines Verhältnisses zu mir selbst.

Wunden

Wunden sind eine Inspiration meiner künstlerischen Arbeit. Wenn eine Wunde geschlagen ist, muss sie versorgt werden, heilen, es entsteht Schorf, der abfällt, und wieder Schorf, der die neue Haut entstehen lässt, der wieder abfällt usw. Die Arbeit an meinen Bildern verläuft sehr ähnlich: ich baue Oberflächen und schlage darin Wunden, forme Gestalten und verletze sie durch Lösungsmittel oder mechanische Einwirkungen. Aus den auf- und abgetragenen Flächen auf den Leinwänden entstehen auf diese Weise nach und nach Situationen, die für mich Narbenlandschaften sind. Was am Schluss noch da ist, hat überlebt, was nicht, hat beim Verschwinden mindestens Spuren hinterlassen.

Wunschmaschinen

Den Begriff der Wunschmaschine (machine désirante - Begehrensmaschine) prägten Gilles Deleuze und Félix Guattari, um ihre Idee eines produktiven „maschinellen“ Unbewussten zu benennen. Hierzu ein kurzes Zitat aus der Geburtsschrift der Wunschmaschinen:

 

„Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, ißt. Es scheißt, es fickt. Das Es ... Überall sind es Maschinen im wahrsten Sinne des Wortes: Maschinen von Maschinen, mit ihren Kupplungen und Schaltungen. Angeschlossen eine Organmaschine an eine Quellmaschine: Der Strom, von dieser hervorgebracht, wird von jener unterbrochen. Die Brust ist eine Maschine zur Herstellung von Milch, und mit ihr verkoppelt die Mundmaschine. Der Mund des Appetitlosen hält die Schwebe zwischen einer Eßmaschine, einer Analmaschine, einer Sprechmaschine, einer Atmungsmaschine (Asthma-Anfall). In diesem Sinne ist jeder Bastler; einem jeden seine kleinen Maschinen.“ (Deleuze/ Guattari, Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie I)

 

Im Unterschied zu Freud, dem Vater der Theorien über das Unbewusste, wenden sich Deleuze und Guattari gegen die Vorstellung, dass das Unbewusste rein psychisch, also irgendwo in unserem Kopf verborgen sei. Stattdessen steckt es für sie ebenso in allen technischen und gesellschaftlichen Prozessen und Interaktionen. Die soziale und kulturelle Welt, in der wir Leben, ist immer auch die Welt, in der unser Unbewusstes stattfindet bzw. an der es auch gestaltend mitwirkt (wie wir Dinge wahrnehmen oder welche Gefühle sie in uns auslösen zum Beispiel).

 

In einem Arbeitszyklus in 2021 habe ich mich mit Deleuzes und Guattaris Begriff der "Wunschmaschinen" als Modell für das Verstehen von Kunstwerken, ihrer Wirkung sowie der Impulse auseinandergesetzt, die mich als Künstlerin antreiben. Wie alle „Wunschmaschinen“ ist auch das Unbewusste stets aktiv, produktiv und löst Begehren (Wünsche, Bedürfnisse, Hoffnungen) aus.

 

Die Anlehnung an Deleuzes und Guattaris „Wunschmaschinen“-Konzept ist in gewisser Weise eine (Selbst-) Kritik an Kategoriebildungen wie Weiblich vs. Männlich oder animalisch (Tier) vs. kultiviert (Mensch) — Themen die in meinen Bildern immer wieder vorkommen. Liest man Gesellschaften als komplexes Miteinander von „Wunschmaschinen“, verlieren Relationen wie Ursache und Wirkung, Täter und Opfer, Herrschende und Beherrschte, Reiche und Arme, Diskriminierende und Diskriminierte ihre Eindeutigkeit. Das hierarchische Denken verliert den Boden unter den Füßen und alle sitzen sozusagen in demselben Boot.

 

Ein solcher Zugang ist so radikal, wie problematisch, wie aber auch zum Denken anregend. Solche Verwerfungen in Bewegung zu setzen interessiert mich in meinen Bilder. Bei Deleuze und Guattari sind unter anderen die Gesellschaft, die Sprache, der Körper, das Leben, die Wirtschaft, die Literatur, die Malerei, die Phantasie, die Schizophrenie und der Kapitalismus „Wunschmaschinen“. Angenommen, wir verstehen den männlichen Blick ebenso als „Wunschmaschine“: hervorgerufen durch Begehrlichkeiten zum Beispiel der Macht und der Sexualität, so öffnet sich auch hier die umgekehrte Richtung: der weibliche Körper als „Maschine“ die sich (potenziell) zeigen und begehrt werden will und die hieraus wiederum ihre eigene Macht gewinnt. Und umgekehrt: was für eine „Wunschmaschine“ wäre dann der weibliche Blick?

 

Zuletzt lassen sich Bilder selbst als Wunschmaschinen beschreiben. Von der Künstler*innenseite aus können sie eine Art Ausdrucksraum für Konflikte sein, ob individuelle oder kollektive, ob bewusste oder unbewusste. Von der Rezipient*innenseite aus können sie Projektionsflächen für Ängste und Sehnsüchte werden, aber auch auf diejenigen, die sie Betrachten produktiv einwirken bzw. bei ihnen etwas bewirken. 

 

(c) Maria Wirth | Alle Texte unterliegen dem Urheberrecht und dürfen nicht ohne Erlaubnis reproduziert oder zitiert werden.